Reformvorschläge zu EU-Schuldenregeln greifen Deutschland zu kurz

26.04.2023 18:54

Die Schuldenregeln der EU sind aus Sicht von Kritikern kompliziert
und streng. Oft nicht eingehalten und nach den jüngsten Krisen
vorübergehend ausgesetzt, sollen sie nun reformiert werden. Die
Kommission legt Vorschläge auf den Tisch - Deutschland will mehr.

Berlin/Brüssel (dpa) - Die von der EU-Kommission vorgelegten
Reformvorschläge für die europäischen Schuldenregeln sind aus Sicht
der Bundesregierung nicht ausreichend. «Das, was vorgelegt ist,
entspricht noch nicht unseren Erwartungen», sagte Finanzminister
Christian Lindner am Mittwoch in Berlin. Es brauche noch deutliche
Anpassungen, um zu wirklich verlässlichen, transparenten und
verbindlichen Regeln zu kommen. «Aber immerhin sind Ansatzpunkte im
Vorschlag der Kommission erkennbar, die eine weitere Debatte
lohnenswert erscheinen lassen. Das gilt es nun im Rahmen der
Gespräche auszuloten und darauf aufzubauen», sagte der FDP-Politiker.

In Reformvorschlägen für den sogenannten Stabilitäts- und
Wachstumspakt hatte die Brüsseler Behörde am Mittwoch vorgeschlagen,
hoch verschuldeten europäischen Ländern mehr Flexibilität beim Abbau

von Schulden und Defiziten einzuräumen. Statt einheitlicher Vorgaben
für alle Länder setzt die Behörde auf individuelle Wege für jedes
Land, um Schulden und Defizite langfristig zu senken.

«Wir leben in einer sehr anderen Welt als vor 30 Jahren. Andere
Herausforderungen, andere Prioritäten», sagte
Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis in Brüssel bei der
Vorstellung des Vorschlags. Die neuen Regeln müssten diese
Veränderungen widerspiegeln. Die EU stehe vor einem massiven Reform-
und Investitionsbedarf für den grünen und digitalen Wandel.

Die Schuldenregeln schreiben den EU-Staaten Obergrenzen vor. Die
bisherigen Ziele, Schulden bei maximal 60 Prozent der
Wirtschaftsleistung zu begrenzen und Haushaltsdefizite unter 3
Prozent zu halten, bleiben dem Vorschlag zufolge bestehen. Allerdings
soll es vor allem für das Erreichen des 60-Prozent-Ziels keine
einheitlichen Vorgaben mehr geben. So sollen individuelle Pläne
Ländern mit übermäßiger Verschuldung mehr Zeit und Flexibilität
einräumen. Auch soll die Überwachung der Umsetzung vereinfacht
werden. Verstöße sollen leichter geahndet werden können.

Wegen der Corona-Krise sowie der Folgen des russischen Angriffs auf
die Ukraine wurden die bislang geltenden Regeln bis 2024 ausgesetzt.
Bislang müssen Staaten normalerweise fünf Prozent der Schulden, die
über der 60-Prozent-Marke liegen, im Jahr zurückzahlen. Für hoch
verschuldete Länder wie Italien oder Griechenland wäre das für das
Wachstum verheerend. Auch vor der Pandemie wurde das Regelwerk oft
missachtet - auch von Deutschland.

Die hoch verschuldeten Länder hätten nach dem Vorschlag mehr Zeit, um
das Defizitziel zu erreichen und ihre Schulden zu senken. Solange das
Defizit über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt, muss
dem Gesetzesvorschlag zufolge der «korrigierende Nettoausgabenpfad»
der Länder jährlich um mindestens 0,5 Prozent des BIP angepasst
werden. Nach Angaben einer Kommissionssprecherin geht es um das
strukturelle Saldo mit Ausnahme befristeter Maßnahmen. Bei diesen
könnte es sich etwa um Corona-Hilfen oder Ausgaben für den
Klimaschutz handeln. Als Saldo wird der Differenzbetrag zwischen der
Ausgaben- und Einnahmenseite bezeichnet.

Lindner kritisierte das Fehlen klarer und einheitlicher Regeln zum
Schuldenabbau: «Uns fehlen die numerischen Vorgaben, uns fehlen
Haltelinien.» Der Vorschlag leiste noch nicht das, was er sollte -
verlässlichen Defizitabbau, verlässliche Reduzierung der
Staatsschuldenquoten.

Deutschland hatte in der monatelangen Debatte über die neuen Regeln
strenge Mindestvorgaben gefordert. Nach Vorstellung des
Finanzministeriums sollten Länder mit hohen Schuldenquoten diese um
mindestens einen Prozentpunkt jährlich senken müssen. Bei Ländern mit

mittleren Schuldenquoten soll es ein halber Prozentpunkt sein. Die
Positionen zu den Schuldenregeln sind in den einzelnen EU-Ländern
sehr unterschiedlich.

Die Staaten und das EU-Parlament müssen nun über die vorgeschlagenen
Reformen verhandeln. Bei einem informellen Treffen der
EU-Finanzminister in Schweden Ende der Woche wird es Lindner zufolge
einen ersten Gedankenaustausch zu den Reformvorschlägen geben, er
erwarte aber noch keine Durchbrüche.

Der SPD-Europaabgeordnete René Repasi kritisierte, dass die
Kommission künftig bilateral mit den Ländern den Schuldenabbau
vereinbaren wolle und nationale Parlamente keine Rolle in den
Vorschlägen spielten. Aus Sicht des wirtschaftspolitischen Sprechers
der christdemokratischen EVP-Fraktion, Markus Ferber (CSU), hat die
Kommission bei dem Reformvorschlag die Finanzstabilität «aus den
Augen verloren». Der grüne Europaabgeordnete Rasmus Andresen
kritisierte Lindners Äußerungen. Seine Kritik sei «nicht von der
eigentlich konstruktiven deutschen Verhandlungslinie abgedeckt». Man
brauche eine offene Bundesregierung, keinen Konfrontationskurs, der
die EU weiter spalte.